Dr. Peter Larsen, Dramaturg und Musikwissenschaftler
Originalbeitrag für das Programmheft einer Aufführung in Trier, September 2008


In Frankreich hatte man von jeher eine Vorliebe für das Phantastische und Absurde. Es ist geradezu ein Kennzeichen französischer Poesie: Vom „Roman de fauvel“ aus dem 13. Jh. (in dem ein Esel Hauptakteur ist), über François Rabelais im 15. Jh., Jacques Callots phantastischen Realismus im 17. Jh. (E.T.A. Hoffmann verehrte diesen alten Meister), Victor Hugo und Jules Verne im 19. Jh. bis zum Symbolismus, Surrealismus und Dadaismus – immer steht eine dem Absurden zuneigende Weltsicht im Mittelpunkt poetischen Ausdrucks. (Man denke auch an Eric Satie in der Musik, René Margritte in der Malerei, Jacques Tatí, Claude Chabrol im Film. Und wer kennt nicht den zauberhaften Film von Jean-Pierre Jeunet mit Audrey Tautou aus dem Jahr 2002 „Die fabelhafte Welt der Amélie“, in der ein Pariser Mädchen dem Großstadtalltag phantastisch-absurd-poetische Seiten abringt.)

So ist es nicht verwunderlich, dass in Frankreich die E.T.A Hoffmann-Rezeption erheblich nachhaltiger war, als in Deutschland. Bereits 1851, 29 Jahre nach dem Tod des deutschen Dichters, erschien ein fünfaktiges Schauspiel mit dem Titel „Les Contes d’Hoffmann“ von Michel Carré und Jules Barbier. Grundlage waren Motive aus Hoffmanns phantastischen Geschichten, die bereits in den 1830er Jahren in französischer Sprache erschienen waren. Die drei Liebesabenteuer des Schauspiels entstammten verschiedenen Novellen Hoffmanns: Die Olympia- Episode aus „Die Automate“ („Die Serapionsbrüder“) sowie „Der Sandmann“ („Nachtstücke“), die „Geschichte vom verlornen Spiegelbilde“ („Phantasiestücke in Callot‘s Manier“), die Antonia-Geschichte aus der Erzählung „Rat Crespel“ („Die Serapionsbrüder“).

Die von den Autoren frei erfundenen Vor- und Nachspiele (I. und V. Akt) sind von der Novelle „Don Juan“ („Phantasiestücke in Callot‘s Manier“), inspiriert. Auch das Märchen von „Klein-Zaches, genannt Zinnober“ hat mit dem Lied von „Klein-Zack“ Eingang in den Stücktext gefunden. Der Name des Wirtes Luther verweist auf die Berliner Weinstube Lutter in der Nähe des Schauspielhauses am Gendarmenmarkt, in dem Hoffmann, der in der zeitweise in der nahen Charlottenstraße wohnte, oft verkehrte. (Bekannt ist auch das Etikett der Sektmarke Lutter & Wegner, das E.T.A. Hoffmann und den Schauspieler Ludwig Devrient in dem Weinkeller zeigt.)

Musikalisch befasste sich zunächst Leo Delibes 1870 mit dem Stück, in dem er Motive der Olympia-Episode als Ballett auf die Bühne brachte. Dieses Tanzstück mit dem Titel COPPELIA wurde nicht nur weltberühmt und gehört zum Standardrepertoire des Balletttheaters, sondern blieb auch das einzige Werk von Delibes mit Weltgeltung.

Schon 1871, im Jahr darauf, bearbeitete Jules Barbier sein Schauspiel als Opernlibretto und hatte dabei wohl bereits Jacques Offenbach im Blick. Und das war kein Zufall. Denn der deutsch-jüdische Komponist, dessen Künstlerdasein in Frankreich zwischen umjubeltem Star und enfant terrible changierte, beherrschte feinste Zwischentöne und die hohe Kunst, gesellschaftliche Verhältnisse ad absurdum zu führen. Zudem hatte er in der 1864 uraufgeführten und lange vergessenen vieraktigen Romantischen Oper LES FÉES DU RHIN (Die Rheinnixen) gezeigt, wie Traum und Realität bis zur Unkenntlichkeit ineinander verschwimmen und damit noch einmal ein spätes, grandioses, romantisches Opernwerk vorgelegt. So gehört Offenbach, der Wahlfranzose, unbedingt mit in die Reihe derer, die in Frankreich das Phantastische poetisch zu formulieren verstanden. Und es ist keinesfalls Zufall oder ein bloßer Gedanke kompositorischer Ökonomie, dass die „Barcarole“ und andere Teile aus den FÉES von ihm in die Hoffmann-Oper übernommen worden sind; vielmehr zeigt sich, dass Offenbach das „Romantische“ hier akzentuieren wollte. So bilden Offenbach und seine musikalische Umsetzung gewissermaßen das „missing link“ zwischen spezifisch französischer Poetik und deutscher Romantik in der Spielart E.T.A. Hoffmanns.

Dazu kommt die verwirrende, ja labyrinthische Werk- und Editionsgeschichte. Offenbach, der 1882 starb, hat die Uraufführung, die zuerst für 1880 geplant war, nicht mehr erleben können. Sein Opus ultimum blieb Fragment; er hinterließ es lediglich im Klavierauszug, die Instrumentierung übernahm Offenbachs Freund und Mitarbeiter Ernest Guiraud, der auch die gesprochenen Dialoge in Rezitative verwandelte (an dieses Konzept lehnt sich die textkritische Fassung von Fritz Oeser an). Die Vielfalt und das Durcheinander der Fassungen, Ausgaben, Rekonstruktionen, kritischen Neuausgaben haben schon an sich etwas Groteskes; HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN ist eine Oper, die niemals ganz zu einer abgeschlossenen Werkhaftigkeit kommen wird. Somit sperrt sich das Stück selbst jeder Sicherheit, die man von einem aufführbaren Bühnenwerk erwartet. (Allein die freie Kombinierbarkeit in der Reihenfolge der drei Mittelakte deutet schon an, dass es da wohl nicht mit rechten Dingen zugeht.) So tragen Inhalt, Form, Gestalt und Entstehungsgeschichte der Oper das Phantastische schon in sich.