Fritz Oeser †

Öffentlichkeit der Wirkung hat er nie gesucht. Kongresse, Ausschüsse, Verbände waren ihm als Produktionsstätten organisierten Leerlaufs tief suspekt. Er hat sie und andere Kategorien der Public-Relations-Pflege schlechtweg nicht zur Kenntnis genommen. So konnte es geschehen, daß viele ihn kaum kannten, selbst die, von denen man es hätte erwarten dürfen. Dabei war Fritz Oeser, dessen am 23. Februar eingetretenen Tod wir beklagen, zweifellos eine der zentralen Persönlichkeiten des deutschen Musikeditionswesens, ein Mann, bei dem vorerst nicht zu erkennen ist, wie er ersetzt werden soll.

Oeser stammte aus Gera, einer jener kleinen thüringischen Residenzen, die auf Tradition ihrer Musikpflege hielten (und dies heute noch tun). Dort kam er am 18. Mai 1911 zur Welt. Dieser Tag ist ein musikhistorisch bedeutsames Datum: der Todestag Gustav Mahlers. Und Oeser hat mir einmal bekannt, er habe als Gymnasiast dies Geburtsdatum immer als Verpflichtung angesehen; er müsse das Werk Mahlers fortsetzen. Nun, er wurde weder Komponist noch Dirigent, aber wenn selbstloser, leidenschaftlicher Dienst an der Musik als Vermächtnis Mahlers gelten kann, so ist Oeser gewiß einer von dessen Erben gewesen.

In Leipzig, wo er studierte, absolvierte er eine umfassende Praxislehre am altberühmten „Kon"; er war immer ein guter Liedbegleiter seiner Frau, der Sängerin Anna Maria Augenstein, und verfügte außerdem über die heute kaum noch anzutreffende Fähigkeit, musikalische Sachverhalte aus dem Kopf am Klavier darzustellen. Doch sein Hauptgebiet wurde die Musikwissenschaft. Theodor Kroyer und Helmut Schuitz vertraten diese damals an der Leipziger Universität, und das Dissertationsthema, das Schultz Oeser gab, wurde entscheidend für den Berufsweg: „Die Klangstruktur der Bruckner-Symphonie" [link]. Die Arbeit führte zur Verpflichtung des jung Promovierten in den kurz vorher gegründeten Leipziger Musikwissenschaftlichen Verlag - bei dem wir einen Augenblick verweilen müssen, da manchen jüngeren Musikern die damaligen Fakten nicht mehr voll gegenwärtig sind.

Bis 1932 waren Bruckners Sinfonien nur in Überarbeitungen aufgeführt und gedruckt worden (Löwe, Schalk), die zwar gut gemeint sein mochten, aber doch in die Substanz der Werke unzulässig eingriffen. Merkwürdigerweise hatte kaum jemand die autographen Partituren studiert, obwohl sie doch in der Wiener Nationalbibliothek einsehbar waren. Die Sensation kam 1932 mit der Aufführung der Fünften nach der Originalhandschrift, die Siegmund von Hausegger in München riskierte. „Das gewaltige Werk erlebte nun erst seine Uraufführung und wurde damit der Welt im wahrsten Sinne des Wortes neu geschenkt", schrieb damals Furtwängler. Seither bemühte man sich systematisch um den echten Bruckner; eine kritische Neuausgabe wurde notwendig, für welche der oben genannte Verlag gegründet wurde. Und Oeser, der schon für seine Doktorarbeit in Wien die Originale geprüft hatte, wurde wichtiger Lektor in diesem Haus. Wenn auch sein Name nicht auf allen der damals neu erscheinenden, heute bereits selten gewordenen, grauen Taschenpartituren zu finden Ist, so gehörte er doch zu den Männern der ersten Stunde, und nur seine Besscheidenheit hinderte ihn, sich ins rechte Licht zu stellen. Doch wußten alle Insider um den Wert seiner Arbeit, und seine erweiterte Dissertation, zweimal aufgelegt als „Die Klangstruktur der Bruckner-Symphonien", wurde zur wichtigsten Dokumentar-Broschüre für den „Ur-Bruckner". Hier kann nicht der weitere Weg der neuen Bruckner-Edition geschildert werden, wenn auch Oeser bis zu seiner Einberufung 1940 maßgeblich daran beteiligt war. Er erwarb sich dabei die Fähigkeit, die seine Spezialität werden sollte: die Herausgabe von Musiktexten mit komplizierter Quellenlage. Als er 1946 aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam, war an eine Fortführung der Leipziger Arbeit nicht zu denken. Oeser sammelte die Reste des Verlags (der schon 1944 in Bruckner-Verlag umfirmiert hatte) und übersiedelte damit nach Wiesbaden.

Dort hat er, nun als alleiniger Leiter und Verantwortlicher, den Verlag wieder aufgebaut, Die Situation war schwierig; für die Bruckner-Editionen war inzwischen in Wien ein neuer Musikwissenschaftlicher Verlag entstanden, den die Internationale Bruckner-Gesellschaft trug. Bruckner war also verlegerisch kaum noch ein lohnendes Feld für Oeser, lediglich die III. Sinfonie in der Fassung von 1878 erschien noch in Wiesbaden. Statt dessen verfolgte er eine Linie, die er schon in Leipzig angeregt hatte: die Ausweitung der Produktion auf anderes neben Bruckner. So entstand z.B. die Reihe nachgelassener Werke von Hugo Wolf. Ferner wurde Zeitgenössisches ins Programm genommen. Auch suchte und fand Oeser Kontakte mit den musikalischen Staatsverlagen jenseits des eisernen Vorhangs, wovon besonders die Zusammenarbeit mit Artia-Prag fruchtbar wurde; daß etwa der slowakische Komponist Ján Cikker auf westdeutschen Bühnen heimisch wurde, ist nicht zuletzt Oesers Verdienst. Doch war die Finanz-Basis des Bruckner-Verlages auf die Dauer wohl zu schmal. So kam es 1955 zur Fusion mit Bärenreiter und zur Übersiedlung nach Kassel. Dort wurde der Verlag als Alkor-Edition selbständig weiter geführt; Oesers Leitungsfunktion und Verantwortlichkeit blieben uneingeschränkt. 1976 schied Oeser aus der verlegerischen Tagesarbeit aus, um sich ganz seinen editorischen Arbeiten widmen zu können.

Deren Schwergewicht hatte sich mehr und mehr in Richtung Musiktheater verschoben, zu dem sich Oeser stets hingezogen fühlte. So sind auf diesem Gebiet die Editionen entstanden, welchen in Oesers Lebenswerk die größte Bedeutung zukommt: text- und quellenkritische Neuausgaben von Opern. Da es unmöglich ist, sie hier alle aufzuzählen (s. MGG-Supplement, Sp. 1420), sei wenigstens die „Carmen"-Partitur mit dem dazugehörigen Editionsbericht genannt, eine Arbeit, die ihn über Jahre beschäftigte, zur engen Zusammenarbeit mit Felsenstein führte und ihr Ergebnis schließlich 1964 in einer Publikation fand, die schlechthin vorbildlich zu nennen ist. Allein der Editionsbericht ist spannend wie ein Roman, denn Oeser gehörte zu den wenigen Musikologen, die nicht nur lesbar, sondern brillant formulierten. Von seinen weiteren kritischen Neuausgaben sei wenigstens noch die letzte Arbeit erwähnt: Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen", deren Klavierauszug 1977 und deren Bericht 1981 erschienen. Dieser war das Letzte, was der schon von schwerer Krankheit Gezeichnete geschaffen hat.

Oesers stets sehr gründlich angelegte Berichte bezeugen die unermüdliche, akribische Forschungsarbeit, die hier geleistet wurde. Sie führte nicht nur zur Wiederauffindung von verloren Geglaubtem, sondern beruhte vor allem auf genauer Kontrolle des Überlieferten, Note für Note, Wort für Wort. Dabei wurde immer korrekt getrennt zwischen authentisch gesichertem Material und - in Fällen, wo nicht darauf verzichtet werden konnte, wie etwa beim „Hoffmann" - editorischer Zutat. Letztere ist überall eindeutig als solche deklariert worden. Denn nicht nur die Herstellung genauer und, was nicht geringer zu veranschlagen ist, theatermäßig brauchbarer Ausgaben war Oesers Leidenschaft. Er bemühte sich auch um das Ausfeilen vors Schwächen in bestehenden Werken, wo er solche aus seiner Sicht zu erkennen glaubte. Als Beispiel ist seine Bearbeitung von Richard Strauss' „Frau ohne Schatten" zu nennen, die die Zustimmung von Dr. Franz Strauss fand und 1954 in Stuttgart erstmals auf die Bühne kam (Dirigent Ferdinand Leitner [link], Regie Günther Rennert [link]). Auch existiert eine vollständige Instrumentation von Schuberts „Grand Duo"; Oeser war ja nicht der einzige, der dies vierhändige Werk für den Klavierauszug einer verlorenen Sinfonie Schuberts hielt. Mit Musik, die ihn beschäftigte, konnte er sich total und passioniert identifizieren. Hier erlebte ich unvergeßliche Stunden der Zusammenarbeit mit ihm bei der Arbeit an meiner oratorischen Oper „Die Stadt hinter dem Strom" (Uraufführung 1955 Wiesbadener Maifestspiele). So bestellte er mich einmal nach Wiesbaden, da der Chorprolog umgearbeitet werden müsse - womit er recht hatte -, setzte mich an einen Verlagsschreibtisch und ließ mich das Erforderliche sofort komponieren. Ein andermal rief er spät abends an: Eine bestimmte Szene im III. Akt hätte keinen Höhepunkt - „ich bezahle die Änderung des Klavierauszugs und der Stimmen, aber da brauchen wir noch 20 Takte". Er gab den einzelnen Szenen Überschriften; er schlug so viele Korrekturen auch des Textes vor, daß Hermann Kasack, der Textdichter, schließlich ausrief: „Nun ist es aber genug!" - derselbe Kasack, der, in Verlagsdingen wahrlich nicht unerfahren, aber auch gesagt hatte: „Wo gibt es heute noch solch einen engagierten Verleger!" - Ich weiß von anderen Komponisten, mit denen er ähnlich arbeitete. Das war keine Besserwisserei, sondern echte Partnerschaft.

Oeser und ich lernten uns persönlich Ende 1949, kurz nach meiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft, kennen (brieflich kannten wir uns schon früher). Er nahm damals sofort mein „Konzert für mehrchöriges Orchester" in Verlag und war einer der wenigen, die mir bei diesem schwierigen Existenz-Neubeginn nicht nur schöne Worte, sondern tätige Kooperation bot. Auch dies Orchesterkonzert hat er übrigens später völlig umgearbeitet; es ist nun allerdings nicht mehr mein Stück, aber ich hatte an die Komposition ohnehin nicht sehr geglaubt, und so mag es denn in Oesers Fassung bestehen bleiben.

Unvergeßlich sind mir die Stunden und Nächte gemeinsamer Diskussionen, wo man sich beiderseits um künstlerische Fragen die Köpfe heiß redete. Er konnte auch hinreißend von seiner Forschungsarbeit erzählen, etwa: wie viele Abende er mit dem alten Bibliothekar der Pariser Opera comique beim Rotwein zubringen mußte, bis er ihn endlich so weit hatte, dem nochmaligen Durchstöbern der staubigen Bestände zuzustimmen, unter denen Oeser noch alte ,,Carmen''-Uraufführungsstimmen vermutete (was sich als richtig erwies). Von diesen Stimmen wußte er Amüsantes zu erzählen, so von Zeichnungen und Bemerkungen der Orchestermusiker, die nicht immer publizierfähig waren (das im Editionsbericht enthaltene Faksimile ist vergleichsweise harmlos). Auch aus der Brucknerforschung konnte er interessantes berichten. Hier beruht ja die Problematik der Textauthetic nicht zum kleinsten Teil auf Bruckners Unvermögen, definitive Entscheidungen zu treffen, so daß man immer wieder auf sich widersprechende Zeugnisse und Überlieferungen stoßt. Oesers Schilderung der Situation um den berühmt-berüchtigten Beckenschlag im Adagio der Siebten war köstlich.

Es ist nicht allein der Verlust des Freundes, der mich veranlaßt, Fritz Oesers Einmaligkeit, die Qualität seiner Arbeit und das hohe Niveau seiner Menschlichkeit hervorzuheben. Persönlichkeiten wie er sind für die Musik schlechthin unentbehrlich. Sie tragen das in die Musik hinein, ohne welches diese nicht leben kann: Enthusiasmus. Dies ist um so dringender, als wir uns in einer Zeit fortschreitender Enthumanisierung der Musik befinden, einer Zeit, der alles „machbar" erscheint und lediglich eine Frage des effizienten Managements. Oeser begriff sein Verhältnis zur Musik noch als individuelle Aufgabe, er kannte keine andere Legitimation als das Künstlerische.

Ein solches Wirken ist wohltuend, ja ermutigend in unserer Gegenwart, und es wird beispielhaft bleiben über seinen Tod hinaus. Bei ihm handelt es sich nicht nur um das In-Ehren-Halten eines Andenkens; solche Menschen wie Fritz Oeser hinterlassen Maßstäbe, die zur Verantwortung mahnen.

Hans Vogt (Musica 36, 1982, Heft 2, S. 194-196)